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Der bewaffnete Konflikt in der Türkei bald vorbei?

Yazarın fotoğrafı: Çetin GürerÇetin Gürer

Am 1. Oktober 2024 sorgte der Vorsitzende der ultranationalistischen Partei MHP (in Deutschland als Graue Wölfe bekannt), Devlet Bahçeli, für eine politische Irritation: Im türkischen Parlament ging er unerwartet auf die Abgeordneten der pro-kurdischen Partei DEM zu und schüttelte ihnen die Hand. Doch der eigentliche Wendepunkt folgt nur wenige Wochen später: Am 22. Oktober 2024 sagte Bahçeli in seiner Fraktionssitzung: „Abdullah Öcalan soll ins türkische Parlament kommen, bei der Fraktionssitzung der DEM-Partei die Auflösung der PKK verkünden und vorbehaltlich auf Bewährung freigelassen werden“[1]. Diese Aussagen verrieten, dass erneute Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und Öcalan/PKK im Gang sind.


bewaffnete konflikt in der türkei
Bahceli schüttelt den DEM-Abgeordneten die Hand

Für Devlet Bahceli gilt Abdullah Öcalan als ein absoluter Staatsfeind der Türkei und es war keineswegs vorstellbar, dass er sich an Öcalan wenden und von seiner Freilassung sprechen würde. Öcalan sitzt seit 26 Jahren auf der Gefängnisinsel von Imrali, das außerhalb des Gesetzes steht und mit Sonderregelungen verwaltet wird. Seit 2015 genießt Öcalan keine schriftlich festgelegten Rechte der türkischen Haftordnung und befand sich in strenger Isolationshaft. Die Erdogan-Bahceli-Regierung führt seit 2015 eine autoritäre Politik und einen umfassenden Repression gegen die Kurden in der Türkei und Syrien. Unter diesen politischen Umständen erwartete niemand einen Wandel in der Kurdenfrage und daher waren die Aussagen von Bahceli ein großer Umbruch und lösten eine öffentliche Überraschung aus.



Seitdem ist es ein Topthema in der türkischen Öffentlichkeit und Politik und viele Menschen suchen nach Antworten auf zahlreiche Fragen, da die Inhalte des Prozesses unbekannt sind und die Gespräche zwischen den türkischen Staatsvertretern und Öcalan hinter verschlossenen Türen und streng geheim stattfinden. Am 27 Februar 2025 hat Öcalan mit eigener Handschrift und Unterzeichnung einen Aufruf zur Selbstauflösung der PKK verkündet. Damit erfüllte Öcalan seinerseits die Erwartungen und machte einen großen historischen Schritt zur Lösung der ethnopolitischen Gewalt. Jedoch bleiben viele Fragen weiterhin unbeantwortet.


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Öcalan's Aufruf zur Auflösung der PKK

Einer der wichtigsten Fragen lautet, warum Erdogan-Bahceli-Regierung unerwartet Gespräche aufnehmen und erneut mit Öcalan verhandeln wollte. Was oder wer hat diese Akteure an den neuen Verhandlungstisch gebracht? Ich möchte eine neue Perspektive zu dieser Frage diskutieren: Wurde dieser Prozess möglicherweise von internationalen Akteuren im Zuge der Neuordnung des Nahen Ostens initiiert? Die Antwort auf diese Frage ist insofern wichtig, um zu verstehen, warum dieser Prozess unerwartet eingeleitet wurde und welche Hauptmotivationen dahinterstehen könnten.


Zwei Narrative und ihre Grenzen

In der türkischen Öffentlichkeit werden von Anbeginn zwei Erklärungen für diesen überraschenden Schritt intensiv diskutiert. Das erste Argument besagt, dass die türkische Staatsräson aufgrund der geopolitischen Neuordnung des Nahen Ostens eine „nationale Bedrohung“ vorausgesehen hat und in diesem Zuge den Dialog mit Öcalan und der PKK als sicherheitspolitische Notwendigkeit wahrnimmt. Demnach sollen sich nach den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem daraus resultierenden Krieg, dem Sturz Assads und dem Rückgang des Einflusses des Irans im ganzen Gebiet die vorhandenen Staatsgrenzen verändern. Die zweite Erklärung weist hingegen darauf hin, dass Erdoğan die Unterstützung der Kurden benötigt, um die türkische Verfassung erneut zu ändern und sich damit eine dritte Amtszeit als Präsident zu sichern. Deshalb brauchte er wohl ein politisches Manöver, um die Stimmen der kurdischen Wähler*innen zu gewinnen, obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2028 stattfinden werden.

Beide Thesen erscheinen jedoch analytisch und empirisch unzureichend belegt. Erstens ist es nicht ersichtlich, dass der Machtwechsel in Syrien eine unmittelbare sicherheitspolitische Bedrohung für die Türkei darstellt. Vielmehr gilt Erdoğan als Garant für Ahmad al-Sara (Colani) in Syrien und könnte von der neuen Lage sogar profitieren. Zweitens ist es nicht wahrscheinlich, dass Erdoğan die erhoffte Unterstützung der Kurden für eine Verfassungsänderung gewinnen könnte, da er während der Gespräche mit Öcalan seinen autoritäre Politikkurs beibehalten hat. Daher leiden Kurdische Politikerinnen, Aktivistinnen und Intellektuelle weiterhin unter einer systematischen Kriminalisierung und den Repression der Regierung Erdogans. Dies schließt aber nicht aus, dass Erdogan am Ende dieses Prozesses seine innenpolitischen Ziele nicht erreichen kann.



Die Rolle der internationalen Akteure

Vor diesem Hintergrund schlage ich eine andere These vor: Die Initiative für den neuen Friedensprozess geht nicht primär von der türkischen Regierung oder der kurdischen Bewegung aus, sondern von internationalen Akteuren – insbesondere von der von den USA geführten Anti-IS-Koalition.

Es scheint, dass der Konflikt zwischen der Türkei und der PKK ein erhebliches geopolitisches Hindernis darstellt, das den Interessen internationaler Akteure im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, gefährdet. Diese Akteure verfolgen im Grunde zwei zentrale Ziele: Einerseits wollen sie nach dem Sturz von Assad einen stabilen Staatsaufbau in Syrien erzielen, andererseits streben sie nach einer langfristigen Sicherheit für Israel in der gesamten Region. Beide Ziele kollidieren mit der Interventionspolitik der Türkei.

Obwohl Präsident Erdoğan und Devlet Bahçeli von Beginn an unterstreichen, dass der neue Friedensprozess eine rein türkische Initiative sei und ohne Einfluss Dritter initiiert wurde, wurde es nach dem Aufruf Öcalans vom 27. Februar 2025 klarer, dass internationale Akteure im Spiel sind.

Ein bemerkenswertes Indiz dafür lieferte z.B. Sırrı Süreyya Önder, ein offizielles Mitglied der İmralı-Delegation. In einem Fernsehinterview sagte er, „es gebe Staaten, die „diesem Prozess Anschub geben[2]“. Durch diese beiläufige Bemerkung deutet zum ersten Mal an, dass Drittstaaten ein Teil dieses Prozesses sind. Zudem unterstreichen die Reaktionen der internationalen Communities auf Öcalans Aufruf die Mitwirkung der internationalen Akteure: Während der bereits 2013 erfolgte Aufruf Öcalans zur Beendigung des bewaffneten Kampfes keine signifikante Resonanz in der internationalen Gemeinschaft hervorrief, löste seine aktuelle Stellungnahme ein deutlich größeres diplomatisches Echo aus. Von den USA bis Deutschland und England hin zu UN und EU begrüßten auf diplomatischer Ebene den Aufruf Öcalans. Warum diese Akteure damals kein offizielles Statement abgaben, bleibt eine offene Frage.

Ein weiteres wichtiges Indiz sind die Aussagen des Oberkommandierenden der kurdischen Militärkräften YPG, Mazlum Abdi. Bereits im Vorfeld der öffentlichen Bekanntmachung der Verhandlungen zeigte er sich über deren Inhalte und Initiatoren informiert. In einem Interview mit der Al-Monitor Journalistin Amberin Zaman[3] wurde er gefragt, wie er reagieren würde, falls Öcalan die YPG zur Entwaffnung aufrufen sollte. Seine Antwort fiel eindeutig aus: „Einen solchen Aufruf würde Öcalan nicht machen“.


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Mazlum Abdi und Masud Barzani im Gespräch

Diese Aussage legt nahe, dass Abdi, der in enger Abstimmung mit den lokalen Partnern der internationalen Koalition agiert, über die strategischen Rahmenbedingungen des Friedensprozesses und über dessen von externen Akteuren gesetzte Grenzen informiert war. Tatsächlich forderte Öcalan in seinem Aufruf nicht die Entwaffnung der YPG, weil die autonome kurdische Region Rojava und YPG kein Thema des Aufrufs sind, auch wenn sie das Hauptthema der Verhandlungen sind. Im Grunde signalisierte Mazlum Abdi schon wiederum in einem anderen Interview am 28 Oktober 2024, dass die Partner der internationalen Koalition zwischen der Türkei und YPG-Kräften verhandeln, um die Beziehungen zu entspannen und die Dialoge weiterhin aufrechtzuerhalten[4].


Die Interessen der internationalen Akteure

Die türkische Regierung betrachtet die YPG als Ableger der PKK und das autonome Gebiet Rojava als deren Einflussgebiet und will es aus eigenem nationalem Sicherheitsinteresse auflösen. Die PKK dient der Türkei als Vorwand für ihre ständigen Interventionen in Rojava, was wiederum die Stabilität Syriens massiv gefährdet. Um dies zu verhindern sowie einen umfassenderen Krieg in Syrien zu vermeiden, benötigen die internationalen Akteure einen neuen Konfliktlösungsprozess in der Türkei, der zunächst nur die Entwaffnung der PKK und noch keine umfassendere Reformen für die Lösung der Kurdenfrage beabsichtigt.  Kurz gesagt: Die internationalen Akteure halten es unter den aktuellen politischen Bedingungen für notwendig, den bewaffneten Konflikt zwischen der Türkei und der PKK zu beenden – nicht zuletzt, um den Staatsaufbau in Syrien voranzutreiben und die autonomen Rechte der syrischen Kurden abzusichern.

Zudem zeichnet sich eine grundlegende Veränderung im Umgang mit dem Konflikt ab. Dieser hat zwei zentrale Besonderheiten: Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung reicht über ein Jahrhundert zurück und gehört zu den langwierigsten, ungelösten ethnopolitischen Konflikten der post-osmanischen Ära. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde die kurdische Frage weder durch repressive Assimilationspolitik noch durch begrenzte institutionelle Reformen oder militärische Auseinandersetzungen endgültig gelöst. Der türkische Staat verfolgt gegenüber der Kurdenfrage seit fast vierzig Jahren eine archaische Politik und führt einen erbitterten Krieg gegen die PKK.

Die PKK selbst entstand in der Zeit des Kalten Krieges. Öcalan begründete seinen Aufruf zur Auflösung der Organisation genau damit: „Die PKK ist ein Produkt der Bedingungen des Kalten Krieges, doch der bewaffnete Kampf bringt keine Lösung für die Kurdenfrage.“

In vierzig Jahren Krieg und Gewalt hat keine der beiden Seiten einen entscheidenden militärischen oder politischen Erfolg erzielt. Weder wurde auf Gewalt verzichtet, noch wurden substanzielle Schritte zur demokratischen Lösung der Kurdenfrage unternommen. Doch die neuen geopolitischen Entwicklungen im Nahen Osten erfordern nun eine Wende. Ohne eine Lösung der Kurdenfrage bleibt die gesamte Region instabil, besonders Syrien. So sind die internationalen Akteure auf der Suche nach Möglichkeiten und bringen die Türkei, die PKK und Öcalan wieder an einem Verhandlungstisch zusammen.

Die öffentlichen Erklärungen türkischer und kurdischer Akteure fokussieren sich bislang auf zwei zentrale Punkte: Während die kurdische Seite primär die Freilassung Öcalans fordert, insistiert die türkische Regierung auf die vollständige Entwaffnung der PKK. Obwohl diese enge Fokussierung einer umfassenden Lösung der Kurdenfrage im Weg steht, stimmt das jedoch mit den geopolitischen Einstellungen der internationalen Akteure überein. Die früheren Friedensgespräche zwischen der Türkei und Öcalan/PKK liefern uns andere Informationen über die Inhalte und Themen der Verhandlungen als die derzeit diskutierte Selbstauflösung der PKK und die Freilassung Öcalan‘s. Öcalan betrachtete z.B. in den Gesprächen von 2013-2015 die Selbstauflösung der PKK als eine Endphase nach der Einführung der rechtlich demokratischen Reformen. Während der Friedensgespräche zwischen den Vertretern des türkischen Staates und der PKK in den Jahren 2009-2011 in Oslo verließen die PKK-Vertreter am Ende den Verhandlungstisch, weil die türkische Seite lediglich die Entwaffnung der PKK anstrebte, und nicht bereit war, über die kulturell-demokratischen Rechte der Kurd*innen zu verhandeln.

Jetzt jedoch sieht die Situation anders aus: die Reihenfolge der verhandelten Themen hat sich völlig umgekehrt und zwar ohne vorherige Zusicherungen von rechtlichen Grundlagen und Reformen. Die Fragen sind noch unklar, welche Zugeständnisse die PKK am Ende dieser Gespräche erhält, welche kulturellen und demokratischen Rechte den Kurd*innen zugesichert werden. Bekannt sind nur die beiden oben erwähnten Forderungen der Parteien. Daher ist es keineswegs irrelevant, zu behaupten, dass aktuell laufende Friedensgespräche thematisch und inhaltlich die Interessen der Türkei und der PKK/Öcalan nicht wiederspiegeln darstellen, da sie sonst wie eine bedingungslose Kapitulation erscheinen würden. 

Kurz nach Öcalans Aufruf erklärte sich die PKK umgehend bereit, den bewaffneten Kampf einzustellen und sich aufzulösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie plötzlich aus der gesamten Region oder aus der kurdischen Politik verschwinden werden. Eine realistische Möglichkeit wäre, dass sich die PKK einerseits als unbewaffnete politische Organisation neuformiert und andererseits sich kurdischen Militäreinheiten im Irak und Syrien anschließt. Die genauen Modalitäten dieser Transformation werden sich in den kommenden Monaten zeigen. Im Grunde handelt es sich hierbei um einen technischen Aspekt des Entwaffnungsprozesses.

Es scheint, als könnte der bewaffnete Konflikt in der Türkei bald ein Ende finden. Doch wie der türkische Staat mit den zentralen Forderungen der Kurden nach Identität, Kultur, Sprache und Selbstverwaltung umgehen wird und welche Reformen letztendlich umgesetzt werden, bleibt vorerst unklar. Die globalen Konfliktgeschichte zeigt, dass eine langfristige Deeskalation nur durch einen mehrphasigen, institutionell abgesicherten Friedensprozess erreicht werden kann. Eine langfristige Verhandlungsstrategie mit mehreren Phasen und entsprechenden rechtlichen Reformen erscheint als realistischer Weg zu einer nachhaltigen und demokratischen Lösung der Kurdenfrage.

Ob dies letztendlich von einem negativen zu einem positiven Frieden übergehen wird, ist noch offen. Sicher ist jedoch: Ein kriegsmüdes Land und eine erschöpfte Gesellschaft könnten am Ende die eigentlichen Gewinner sein. Gleichzeitig böte sich die Möglichkeit, das autoritäre Regierungssystem Erdoğans auf einen demokratischen Pfad zurückzuführen – falls dieser Prozess strategisch klug, transparent und partizipativ gesteuert wird.


 

[1] Bahceli, Devlet. MHP-Fraktionsrede vom 22.10.2024

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